Den Anstoss für dieses Projekt bekam die Regisseurin Anna-Sophie Mahler bei einem Besuch des Arbeitsplatzes ihrer Schwester in einer Berliner Psychiatrie. Es gründet auf der Feststellung, dass Wahnsinn meist alles andere als chaotisch oder beliebig ist, sondern oft auf in sich geschlossenen Denksystemen beruht. Daraus entstand die Idee, das Projekt durch die Komponente zeitgenössischer Musik zu erweitern. Denn auch in der zeitgenössischen Musik muss jeder Komponist ein individuelles System konzipieren. Im Komponisten und Pianisten Stefan Wirth fand CapriConnection dafür einen geeigneten Partner.
«Tote Fliegen» interessiert sich weniger für die medizinische Diagnose einer psychischen Störung, als für die gedanklichen Strukturen, die sich dahinter verbergen. Aus Gesprächen mit Psychiatriepatienten über Religion und Politik, über magische Quadrate und Zahlenmystik, über Erfindungen und nicht zuletzt über ganz persönliche Wünsche hat CapriConnection ein eigenes System aus Texten entwickelt.
Dieses Textsystem wurde im Probenprozess mit einem unabhängig entstandenen räumlichen System des Bühnenbildners und Rauminstallateurs Duri Bischoff und einem musikalischen System des Komponisten und Pianisten Stefan Wirth konfrontiert.
Das Resultat von Stefan Wirths Komposition ist eine Musik, die sich scheinbar entwickelt, in Wirklichkeit jedoch auf einem gänzlich statisch-hermetischen, ja beinahe wahnsinnigen System beruht: «Ein blühender Fantasie-Garten mit eigenartigsten Pflanzen und Blüten, darunter wirkt jedoch ein eisiger und auswegsloser Mechanismus, der jegliche Veränderung ausschliesst und dem man auf unabsehbare Zeit ausgeliefert ist». Die Verknüpfung von Text-, Raum- und Musiksystem ist ein musiktheatralisches Abenteuer mit aussergewöhnlichem Material. Das Resultat: Ein übergeordnetes System, eine neue Welt, ein Welterklärungsversuch.
Wenn der Schwindel kommt
CapriConnection folgt psychisch Kranken in ihre gedanklichen Systeme
«Und auf einmal war da diese alte Dame, die in ihrer Tasche kramte, weil sie den jungen Leuten etwas zeigen musste. Sie beförderte ein in Seide eingeschlagenes Büchlein zutage: Hölderlin. Doch der psychisch erkrankte Dichter sollte gar nicht wichtig werden. «Das ist ein magisches Quadrat», sagte sie. Und zeigte ein Gitter von Buchstaben, die in die Reihe gelesen einen wunderlichen Satz ergaben: «Tote Fliegen verderben gute Salben». Geheime Botschaften sollte dieses Quadrat enthalten, die aber «hinter zweifach verriegelte Türen» gehörten. Viel mehr verriet sie nicht: «Ich möchte nicht zu viele Türen auftun, sonst kommt einem am Ende noch der Schwindel!»
Was sie nicht wusste: Ihre überraschte Gesprächspartnerin war die Regisseurin Anna-Sophie Mahler, die gerade mit ihrer Begleitung über ihr neues Projekt in Basel sprach: einem Theaterstück über «Systeme und systematischen Wahn». Nach der Begegnung war nicht nur der Titel des Stückes geboren, sondern auch die Kompositionsvorgabe an Stefan Wirth, der aus dem Buchstabengeflecht ein eigenständiges musikalisches System entwickelte.
Anna-Sophie Mahler bildet mit den Schauspielerinnen Rahel Hubacher und Susanne Abelein das Basler Kollektiv CapriConnection, das seine Nische in der Arbeit mit dokumentarischem Material gefunden hat. Zwei Stücke sind so entstanden: «Nachtschicht» und «Liebes Ferkel», das aus Briefen von Freiern an eine Basler Hure ein Kaleidoskop einer verschwundenen Welt gebaut hat. Anders als die großen Erfolgsmacher des neuen dokumentarischen Theaters, Rimini Protokoll, arbeitet CapriConnection nicht mit Personen, die sich und ihre Erfahrungen selbst auf der Bühne darstellen, sondern überführt das Material in eine neue, theatrale Form. Der besondere Reiz, sich nun dem Thema Wahn zuzuwenden, sagt Anna-Sophie Mahler, liegt wie beim «Ferkel»-Projekt im Verborgenen, geht es doch um Material, zu dem man sonst kaum Zugang hätte. Diesmal hat sie in Psychiatrien recherchiert, mit Patienten der Berliner Charité gesprochen, aber auch mit Therapeuten. Ihr Interesse ist dabei kein voyeuristisches. Es geht ihr weniger um die Darstellung psychischer Defekte, so dankbar das auch für Schauspieler sein mag. So konzentriert sich das Projekt auf den so genannten systematischen Wahn, wie er vor allem bei schizophrenen Patienten auftaucht. «Das sind in sich geschlossene Systeme, zu denen man von Außen keinen Zugang mehr hat». Mahler ist diesen gedanklichen Strukturen in Gesprächen über die Zahlenmystik, Religion, Politik und persönliche Wünsche nahe gekommen. Das magische Quadrat fungiert dabei als Schlüssel zu den jeweiligen Denksystemen. Eines, sagt sie, eint fast alle: Der Versuch, einen Zusammenhang herzustellen zwischen Geschehnissen, sich selbst und der Ordnung der Welt. «Hier wird es spannend: Wo hört der Wahnsinn auf, wo ist unser System erkrankt?» Ist die Welt, die wir kennen nur ein allgemein anerkanntes Konstrukt? Mahler will sich auf diese Grenze zwischen anerkanntem Wahn und anerkannter Wahrheit bewegen.
Auf drei Personen basiert der Abend maßgeblich: Da ist der Mann, der astronomisch-mathematisch den inneren Zusammenhang der Welt sucht und diesen mit einem internetfähigen Kalender der die Sonne-Mond-Erdekonstellationen auf den Grund kommen möchte und für den die Zahl Pi ein transzendentales Geheimnis birgt. Da ist der Mann, der in seiner Theorie von der sitzenden Gesellschaft alles in den allerkleinsten Dimensionen erzählen und dabei jeder Abschweifung folgen muss. Und dann gibt es noch den Medienexperten, der sich von sektenähnlichen Strukturen verfolgt fühlt und sich bestens in Terrornetzwerken auskennt. Da wird ein Stück Aluminiumfolie im Hausflur zu einem nicht entschlüsselbaren Missing Link: Wie kann es sein, dass dasselbe Stück Alu Folie auch beim Schul-Geiseldrama von Beslan und andernorts auftaucht? Die Recherche beginnt…
Mahler baut bei der Gestaltung des Textes auf ein System von Wiederholung und Variation, das sie vielen Gesprächen entlehnt hat. Die Sprache der Kranken habe oft eine fast musikalische Poesie. Dazu kommt Musik mit einem eigenen, autarken System und ein labyrinthisch strukturiertes Bühnenbild. So möchte sie das Publikum einladen, auf sinnliche, humorvolle Art den Kranken in ihrer Suche nach Zusammenhängen zu folgen. Nur eine wird wohl kaum in die Gare du Nord folgen: Die Dame mit dem magischen Quadrat ist ihr seither nie mehr begegnet.
René Zipperlen, Der Sonntag, 2.12.2007
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Idee und Konzept: | CapriConnection |
von und mit: | Susanne Abelein, Thomas Douglas, Rahel Hubacher und Fabienne Hadorn |
Gesang: | Jeannine Hirzel |
Klavier/Komposition: | Stefan Wirth |
Regie: | Anna-Sophie Mahler |
Bühne: | Duri Bischoff |
Kostüm: | Nic Tillein |
Licht: | Jens Seiler |
Assistenz: | Andreas Müller |
Produktion: | Thomas Keller, Maren Rieger |
Fotos: | Peter Schnetz |
Trailer: | Jeanne Rüfenacht |
Fachausschuss Theater & Tanz BS/BL, Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung, GGG Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel, Fondation Nestlé pour l’Art, UBS Kulturstiftung, Migros Kulturprozent, Futurum Stiftung, Ernst und Olga Hablützel Stiftung